Wir horten lauter unnütze Dinge und können uns trotzdem nicht trennen von ihnen. Der Historiker Valentin Groebner weiss, warum
Ein Gespräch über Glücksbringer und Kapitalismus.
Herr Groebner, in meinem Schrank steht eine Blechdose mit alten Fahrkarten, Fresszetteln und Fotos. Ich nehme die Dose fast nie zur Hand, hänge aber trotzdem an ihr. Wieso?
Weil es uns allen so geht, und zwar seit langem. Die römischen Legionäre zum Beispiel mussten vor zweitausend Jahren ein standardisiertes Gepäck von gut vierzig Kilo tragen. Die Ausrüstung gehörte dem Reich, aber ein Teil davon war der Loculus, eine kleine Tasche für persönliche Gegenstände. Was darin war, gehörte nur dem Soldaten selbst.
Was enthielten diese Taschen?
Glücksbringer, Amulette, Erinnerungsstücke – genau wissen wir das nicht. Kleine Besitztümer eben, wie wir sie in Schubladen aufbewahren, Dinge, die zu einem gehören. Sie sind eine Materialisierung von Privatheit. Man kann oft selbst nicht erklären, was an ihnen wichtig ist. Sicher ist nur eines: Man kann sie nicht wegwerfen. Wenn ich mein Portemonnaie oder meinen Autoschlüssel verliere, bedeutet das Ärger, Zeitverlust und Behördengänge. Wenn ich aber meinen Glücksbringer verliere, den ich ständig bei mir habe, den Komboloi, die kleine griechische Perlenkette hier (nimmt die Kette aus der Hosentasche), passiert nichts. Aber ich bin betrübt. Mir fehlt etwas, und ich brauche eine neue Kette.
Hängen wir an unnützen und materiell wertlosen Dingen, weil wir der kapitalistischen Warenflut überdrüssig sind? Protestieren wir damit gegen Konsumexzesse?
Als Historiker bin ich gegenüber der Vorstellung des einen, gefrässigen Kapitalismus skeptisch. Es gibt und gab viele Kapitalismen. Den Handel mit und den Konsum von Luxuswaren gibt es seit der Antike, wie die Globalisierung, nur hatte sie ihr Zentrum nicht in Europa. Seit vielen Jahrhunderten berichten alte Texte von persönlichen Dingen, die für ihre Besitzerinnen und Besitzer mit Magie und starken Bedeutungen aufgeladen sind. «Kathexis» hat Sigmund Freud das genannt, Verbindung eines Gegenstands mit seelischer Energie.
Welche Magie verband den römischen Legionär mit seinem Amulett?
Aus der Antike gibt es nur sehr wenige Hinweise. Ab dem Mittelalter aber kursierten Handbücher darüber, die meisten von arabischen und jüdischen Autoren verfasst. Die waren im christlichen Europa recht erfolgreich. Magie verspricht Kontrolle und Steuerung: Wer den richtigen Gegenstand und die magische Formel dazu besitzt, kann die Gefühle und die Wahrnehmung anderer Leute manipulieren und künftige Ereignisse vorhersagen. Das Amulett beschützt einen vor Unglück, mit guter Magie kann man böse Magie abwehren. Diese Phantasien haben die Menschen fasziniert. Sprache ist eine Art historisches Gefrierfach: Das lateinische Wort «fascinare» heisst eigentlich «sexuell verhexen», es geht also um Potenz- und Liebeszauber.
Steckt Magie in Ihrem Komboloi, den Sie in der Hosentasche mit sich herumtragen?
Ja, aber nur für mich. Es ist ein privates Erinnerungsstück. Einzigartig ist er nicht, die Perlen wurden irgendwo in Asien industriell hergestellt, man kann die Dinger in Griechenland überall kaufen. Aber mein Komboloi ist meiner, weil er in meiner Hosentasche steckt und nicht irgendeine Ware in einem Schaufenster ist.
Die Menschen des Mittelalters glaubten an übersinnliche Kräfte, wir nicht. Wir besitzen keine Reliquien. Ist Privatmagie nicht eine kümmerliche Schrumpfmagie?
Glauben Sie wirklich, dass unsere Welt vom Kapitalismus entzaubert worden ist? Jede Person, die in der Werbebranche arbeitet, versichert Ihnen das Gegenteil. Jeder Werbespot und jede Zeitungsanzeige verspricht mir, dass ich mich magisch verjüngen und verwandeln könne, wenn ich nur die richtigen Dinge kaufe: Hautcrème, Duschgel, Turnschuhe – egal, was. Oder nehmen Sie das Smartphone, das natürlich sehr viel mehr kann als jeder magische Ring des Mittelalters. Wenn mein Handy technische Macken hat oder kaputtgeht, werde ich sofort sehr nervös und kann an nichts anderes mehr denken, bis es wieder funktioniert. Das Smartphone besitzt ziemlich viel Macht über mich. Nicht immer ist das positive Magie.
In Ihrem neuen Buch schreiben Sie nicht nur über die privaten Glücksbringer und Souvenirs in den Schubladen, sondern auch über die schönen Dinge, die wir für alle sichtbar auf unseren «Privataltären» ausstellen: auf der Kommode oder dem Bücherregal. Wollen wir damit unseren Besuch beeindrucken?
Es geht mir nicht um wertvolle Dinge wie Kunstwerke und Antiquitäten, mit denen man guten Geschmack vorzeigt. Viel interessanter ist das einfache Zeug, das man selbst schön findet – alte Fotos, Muscheln, Kieselsteine, Fundstücke. Sie beglücken einen und erinnern daran, was einem wichtig ist. Man findet es schön und möchte es jeden Tag anschauen. Deswegen stellt man es in der Wohnung auf.
Wieso brauchen wir diese Dinge?
Weil wir Mängelwesen sind. Wir sind eine Art Weichtiere, dünnhäutig und empfindlich. Die schönen Dinge sind ein imaginärer Schutzpanzer. Wer ein paar Tage in einem leeren Raum untergebracht ist, platziert dort etwas Persönliches, um sich einzurichten. Es ist eine Nachricht an sich selbst: Der Mensch im Gefängnis oder im Asylheim hängt ein Bild auf, das er mit sich trägt. Das Personal in Alters- und Pflegeheimen weiss vermutlich viel darüber, was die Leute am Ende des Lebens in der Nachttischschublade aufbewahren. Ich möchte das lieber nicht so genau wissen.
Aber Menschen sind für uns wichtiger als die Dinge?
Viel wichtiger! Aber die eigenen Dinge verbinden uns mit anderen Menschen. Mit den schönen Dingen in meiner Wohnung teile ich meinem Besuch etwas mit von mir. Und wenn ich für jemanden meine Schublade öffne und meine Erinnerungsstücke zeige, ist die Person mir vertraut. Oder ich wünsche mir, dass sie das wird. Die Glaubensgemeinschaft der Hutterer, die im 16. Jahrhundert von Tirol nach Böhmen und in die Ukraine auswandern musste und von dort in die USA, kennt bis heute kein Privateigentum. Aber jedes Mitglied hat eine hölzerne «Kischte», die nur sie oder er öffnen darf. Es ist der geheime Ort für persönliche Gegenstände, die nur ausnahmsweise hergezeigt werden.
Ein Messie besitzt etwas mehr als ein Hutterer. Liebt er seine Dinge auch?
Da bin ich überfragt. Mein nächstes Forschungsprojekt dreht sich aber um das exzessive Aufbewahren und Horten. Die massenhaft und immer weiter angehäuften Dinge unterliegen allerdings einer anderen psychischen Ökonomie als das Aufbewahren von Gegenständen, die uns lieb und teuer sind. Das Horten wird erzeugt durch die Angst vor dem Verlust. Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts scheint es keine Messies gegeben zu haben. Dieser neue Typus entsteht mit der industriellen Massenproduktion der Dinge und der Informationen. Die meisten dieser unheimlichen privaten Horte bestehen bis heute aus bedrucktem Papier, vor allem aus Zeitungen.
Wenn wir umziehen, kommen wir nicht umhin, auch Dinge wegzuwerfen, an denen wir hängen.
Ja, das bekannte Dilemma: was behalten, was wegwerfen? Von meinen Fotos und den Erinnerungsstücken trenne ich mich nicht. Aber sonst finde ich es befreiend, Dinge wegzuwerfen. Zuerst beim Einpacken und dann beim Auspacken noch einmal. Nachher fühlt sich die Wohnung so schön leer an, und ich kann sie wieder mit neuem Kram füllen.
Zu viele Dinge zu besitzen, erachten wir als verwerflich: Wer sich zu sehr um das Materielle kümmere, vernachlässige seinen Geist, heisst es oft. Nochmals: Ist diese Haltung eine Reaktion auf die kapitalistische Warenflut?
Nein. Schon vor der Industrialisierung wurden die angebliche Gier nach schönen Dingen und die Lust am Konsum verurteilt. Im 16. Jahrhundert klagten Prediger wie der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli darüber, dass die Menschen verrückt seien nach «Seide und ähnlichem Weiberschleck» und deswegen die alte edle Einfachheit vor die Hunde gehe. Die angebliche Bedrohung durch die Lust an den falschen Dingen ist für Moralapostel eine unerschöpfliche Ressource. Alle Religionen unterscheiden zwischen gutem und schlechtem Konsum. Den schlechten Konsum praktizieren auffallenderweise immer die einfachen Leute und die Frauen, die ihr Geld für das Falsche ausgäben und damit die Ordnung der Gesellschaft bedrohten.
Sie besitzen ein teures Rennrad. Woran hängen Sie mehr: am schnittigen Rad oder an Ihrem Komboloi?
Ich will mich nicht entscheiden. Beide gehen irgendwann kaputt. Das ist schade, aber auch eine Chance für ein neues Ding und eine neue Art Vergnügen.
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